Sonnenuntergang in Porto Alegre

Sonnenuntergang in Porto Alegre

Donnerstag, 26. Mai 2011

Lausige Zeiten oder Sozialarbeit von Kopf bis Fuss

Schrecksekunde beim Haarekämmen - ist das da EINE LAUS???
Nach einem kleinen Panikanfall (Laus. Laus? LAUS ?!?!) bat ich meine Gastmutter um ihre fachkundige Einschätzung zu dem kleinen schwarzen Punkt, der sich da auf meinem Haar munter von links nach rechts bewegte, aber auch sie konnte mir nicht weiterhelfen.
Also musste ein echter Experte ran: Meine Kollegin im Cesmar, die mir lachend bestätigte:
"Ja, Frã, das ist definitiv eine Laus und auch ein ganzer Haufen Nissen" Ich wollte kurs verzweifeln, aber meine Kollegin erklärte mir: "Das ist ganz normal und kein Grund zur Sorge. Jetzt bist du von Kopf bis Fuss Sozialarbeiterin.
Läuse gehören zu unserem Berufsprofil genauso wie Filzstiftstriche auf der Hose, Sand in den Schuhe, Heisskleberflecken auf der Jacke und Wasserfarbe unter den Fingernägeln."
Wikipedia bestätigt ihre Einschätzung, Läuse gehörten in einer Favela eben dazu:

In Mittel- und Nordeuropa liegt die Häufigkeit von Kopflausbefall im Kindesalter zwischen 2% und 20%, in Entwicklungsländern dagegen bei bis zu 60%. In einem städtischen Elendsquartier in Brasilien hatten 80% aller Mädchen Kopfläuse.

Da half dann also nur eins: Ab in die Apotheke und Anti-Läuse-Shampoo kaufen.
Bei der anschliessenden Nissen-Entfern-Aktion, bei der ich meine Haare mit verdächtig nach Chemie riechendem und höllisch brennenden Serum und Nissenkamm malträtierte (erschwerend kamen dazu die dynamischen 2 Quadratmeter Grundfläche des Badezimmers, in dem ich ständig irgendeinen Ellenbogen gegen die Wand stiess) verfluchte ich innerlich doch heimlich die Kinder, die mir die Läuse verpasst haben.
Was man als Freiwilliger nicht alles so durchmacht.....





Aber nach der Tortur heisst es jetzt undgültig: AUS DIE LAUS!!

Was mich morgen im Cesmar erwartet, weiss ich wie immer nicht. Aber angeischts der anderen Katastrophen sind Läuse eher ein kleines Problem und wie meine Kollgein sagte: "Mit dem erste Lausbefall bist du offiziell eine von uns!"

Sonntag, 15. Mai 2011

Muttertag in Rubem Berta

Kleine Geschenke für grosse Kämpferinnen

Genauso wie in Deutschland schneiden auch in Brasilien die Kinder kurz vor dem Muttertag rote Moosgummiherzen aus und schreiben mit krakeliger Schrift “Ich hab dich lieb” auf selbstgebastelte Karten. Im Cesmar, in dem ich seit inzwischen knapp 8 Monaten Freiwilligendienst leiste, hat dieser Tag aber noch eine ganz andere Bedeutung für die Kinder und die Mütter der Favela.

“Sora Franziska, ich habe aber gar keine Mutter” flüstert Yruan, als ich ihn auffordere, ein Bild für seine Mama zu malen. Nicht das erste Mal, dass ich diesen Satz in den letzten Woche höre, und wie immer antworte ich darauf genauso wie meine Kollegen “Wer kocht dir Tee, wenn du krank bist; wer tröstet dich, wenn du hinfällst; wer achtet darauf, dass du einen Schirm mitnimmst, wenn es regnet? Diese Person nimmt die Rolle deiner Mama ein, auch wenn sie vielleicht nicht deine Mutter ist “. Yruan überlegt kurz, antwortet dann “Meine Schwester Yasmin!” und beginnt begeisert, ein grosses Herz für sie zu malen. Wie Yruan werden viele Kinder, die das Cesmar besuchen, nicht von ihren leiblichen Müttern aufgezogen, sondern von Grossmüttern, grossen Schwestern, Tanten, Stiefmüttern, Cousinen oder Nachbarinnen. Viele der Mütter sind verstorben, im Gefängnis, waren mit der Erziehung überfordert oder sind eines Tages einfach verschwunden und so nahm eine andere weibliche Person die Mutterrolle ein und versucht, diese grosse Aufgabe so gut wie möglich zu erfüllen. Eine Mutter in der Favela zu sein, ist eine Herausforderung: in einer Umgebung, die von Gewalt, Drogen und Kriminalität dominiert wird, ist es nicht leicht, ein glückliches, verantwortungsbewusstes Kind aufzuziehen, das nicht auf die schiefe Bahn gerät. Meistens sind die Mütter dabei auch noch auf sich allein gestellt, denn Väter gibt es selten in den Favelafamilien und so müssen die Mütter den Lebensunterhalt verdienen, den Haushalt organiseiren und sich um die Kinder kümmern. Im Gottesdienst, das das Cesmar für sie vorbereitet hat, werden sie deshalb zu recht als “Kriegerinnen”, “Kämpferinnen” und “Löwenmütter” bezeichnet. Um diese ganz besondere Mütter zu ehren, basteln und werkeln wir schon seit Wochen mit den KIndern an Überraschungen, die am Muttertag überreicht werden sollen: ausrangierte Patientenmappen einer Zahnklinik werden so von fleissigen Händen in “Beste-Mutter-der-Welt-Ehrenmappen” verwandelt, in der Kunstwerke, Gedichte und Fotos Platz finden; eine riesige Stellwand im Eingangsbereich zeigt die verschiedenen Facetten des “Mutter seins”. In Gruppenarbeiten mit den Kindern erarbeiten wir, wie wichtig unsere Mama für unser Leben ist, was wir ihr alles verdanken und betonen, dass die Kinder bei Differenzen nicht von zuhause weglaufen sollen – ein Leben auf der Strasse führt fast unwillkürlich in die Kriminalität und Drogenabhängigkeit. Der Muttertag im Cesmar ist also mehr als nur eine eine kleine Karte basteln: es ist die Ehrung starker Frauen, die jeden Tag für die Zukunft ihrer Kinder kämpfen und die wichtige Nachricht für die Kinder: Du bist nicht allein in der Welt, selbst wenn du ohne deine Mutter aufwächst. Deshalb kann ich die Frage “Bastelst du auch ein Herz für deine Mutter?”, die in den letzten Tagen immer wieder aufkam, ohne Zweifel beantworten: “Ich bastele 2 Herzen. Für meine Mutter in Deutschland und meine Gastmutter. Denn momentan kocht sie Salbeitee für mich, wenn ich Halsschmerzen habe und deshalb auch meine Mama.”


Mãe é quem cuida, mãe é quem cria, mãe é quem ama

Muter ist, wer sich kümmert; Mutter ist, wer aufzieht; Mutter ist, wer liebt.

Sonntag, 8. Mai 2011

Sprung in der Platte?

Manchmal kommt es mir während meines Freiwilligendienstes vor, als hätte die Schallplatte einen Sprung: man hört wieder und wieder die gleichen Dinge...
Hier die 10 der häufigsten Sätze, die ich im Cesmar hör und sage:

Was ich 1000x am Tag sage:
1. Ay, que desenho lindo! (Was für ein schönes Bild)
2. Silencio! (Ruhe)
3. Não mexe! (Fummel da nicht dran rum)
4. Fila, meninos!! (Jungs, macht eine Schlange)
5. Ou que que houve? (Was ist los?)
6. Tu vai ficar sem intervalo! (Du bekommst keine Pause - heisst, das Kind darf in der Pause nicht spielen, sondern muss am Rand sitzen)
7. Não é assim que a gente resolve problemas aqui no Cesmar. A gente convera e não resolva as coisas aos socos. (So lösen wir keine Probleme hier im Cesmar. Wir reden miteinandern und regeln nichts durch Prügeleien)
8. Desce dai! (Komm von da oben runter)
9. Cuidado com o degrau/a tesoura / o copo.... (Vorsicht mit der Stufe, der Schere, dem Glas...)

Was ich 1000x am Tag höre:
1. Sora, tem repeteção? (Sora, gibt es Nachschlag?)
2. Sora, ele bateu em mim!! (Sora, er hat mich geschlagen!)
3. Sora, porque que tu fala engraçado? (Sora, wieso redest du so lustig?)
4. Sora, da para mim brincar? (Sora, darf ich spielen?)
5. Sora, tenho que ir ao banheiro! (Sora, ich muss auf die Toilette)
6. Sora, me empurra! (Sora, gibst du mir Anschwung?)
7. Sora, da pra mim desenhar? (Sora, darf ich was malen?)
8. Sora, Alemanha é muito longe? (Sora, ist Deutschland weit weg?)
9. Sora, eu vou me comportar agora! (Sora, ich werde mich jetzt benehmen)
10. Sora, não foi eu!!!!!!!!!! (Sora, ich wars nicht!!)




Was man also vorallem braucht: GEDULD. Denn die gleiche Frage kommt bestimmt wieder. Und dann muss man wieder die gleiche Antwort geben....

Freitag, 6. Mai 2011

Kindheit zwischen Norwegen und Neuseeland





Häufig werde ich aufgefordert: "Erzähl doch mal, was in Brasilien alles anders ist!"
Das habe ich aber schon zur Genüge getan und will heute einmal erzählen, was hier alles genauso ist wie in Deutschland.
Obwohl ich immer betone, dass die Kinder im Cesmar "speziell" sind, sind sie ganz objektiv betrachtet genauso wie alle anderen Kinder auf der Welt.
Die Kinder spielen gerne: Die Mädchen mit Puppen, die Jungs mit Autos und zusammen spielen sie Vater, Mutter, Kind.
In der Pause springen sie Seil und Gummitwist oder spielen Fussball oder Fangen, sie singen und tanzen gerne. Am liebsten trinken sie Kakao und essen "Doce de Leite", quasi die brasilianische Version des Nutella und "so schön süss", wie sie selber sagen - dass sie aber auch einen Apfel frühstücken ist meist ein kleiner Kampf. Sie malen gerne, am liebsten Häuser, Autos, Blumen und Schmetterlinge und natürlich darf die lachende Ecksonne nicht fehlen. Wenn sie hinfallen, dann weinen sie und wenn man pustet tut es nicht mehr weh. Die meisten reden am liebsten dann, wenn sie eigentlich den Mund halten sollten, sie streiten sich um Spielzeug und essen gerne Bonbons. Sie sind kreativ und erfinden mit begrenztem Material die tollsten Spiele, wie das Colaflaschendeckel-Spiel oder "Fio elétrico", den heissen Draht mit Gummitwist. Sie schaukeln und rutschen gerne, springen bei Regen begeistert in die Pfützen und gucken anschliessend unschuldig und sagen, die Hose sei ganz von allein dreckig geworden.
Ob James oder Johann, João oder Giovanni:Die Kinder sehen vielleicht anders aus, sprechen eine andere Sprache, haben eine andere Hautfarbe kennen und kennen vielleicht Spiele, die man anderswo nicht spielt. Kulturelle Unterschiede, sozio-ökonomisches Milieu hin oder her - in der Essenz ist Kindheit überall gleich, zwischen Norwegen und Neuseeland, zwischen Mexiko und der Mongolei.