Sonnenuntergang in Porto Alegre

Sonnenuntergang in Porto Alegre

Samstag, 23. April 2011

Kerzenschein und Unwetter - Abenteuer und Katastrophen

Seit Wochen und Monaten hatten die Educadoren des Cesmars auf diesen Tag hingearbeitet:
Karfreitag, der Tag der Insezierung des Kreuzwegs.
Wie in den mesiten lateinamerikanischen Ländern üblich, wird die Passion Christi auch in Brasilien szenisch dargestellt, vom letzten Abendmahl bis über die Festnahme und die Verurteilung bis hin zur Kreuzigung. Der Kreuzweg zieht sich dabei meist durch das ganze Stadtviertel und wird von der Bevölkerung gebannt verfolgt.
Auch in der Favela Rubem Berta sollte die Via Sacra aufgeführt werden und so wurde seit Monaten der Text geübt und geprobt, Bühnenbilder hergestellt und mit Liebe zum Detail Kostüme improvisiert: ein mit Isolationstape beklebter Motarradhelm mit Strohhalmen wurde so zur Soldatenuniform, mit Lederbändern umwickelte Hawaiana-Flipflops zu Römersandalen.
Den ganzen Karfreitag herrschte strahlender Sonnenschein, doch schon als die erste Szene aufgeführt wurde, fielen die ersten Tropfen. Broc, der Organisator des Kreuzganges, erklärte der versammelten Menschenmenge noch, dass die Inszenierung trotz Regens nicht abgebrochen würde, aber da wussten wir ja noch nicht, was uns erwartete.
Die erste Szene endete, wir gingen die Strasse entlang, um zur 2. Bühne zu kommen, doch als wir um die Ecke bogen, fielen und die Kinnladen herunter. Was sich da am Himmel anbahnte, sah nicht gut aus. "Oh Scheisse...." rauhnte es durch die Menschenmenge, und da brach auch schon die Hölle los. Die tiefschwarze, gigantische Wolke, die uns erschreckte hate, brach mit aller Macht über die Favela ein: Sturmböen, die einer Windhose glichen, Blitz und Donner und apoklyptische Regenfälle.
Innerhalb von 2 Minuten fiel der Strom im gesamten Viertel aus hüllte Alles in tiefste Dunkelheit, das Bühnenbild löste sich in seine Einzelteile auf, Holzstücke, Dreck und Müll flogen durch die Nacht, das Publik verschwand in sekundenschnelle in verschiedene Richtungen
Ein Ruf ging durch die Menge: "Alle Mann ins Cesmar zurück!!" Die Frauen sprangen in einen Viehtransporter, der den Kreuzgang mit den Kostümen begleitete, die Männer rannten, alle zurück in Richtung des Cesmars, um Unterschlupf vor dem Regen und dem Sturm zu finden.
Obwohl ich platschnass war und fror, hielt ich das ganze noch für ein grosses Abenteuer, wie ich da so in dem Viehtransporter stand und mich ins Cesmar flüchtete - bis ein Kind meine Hand griff und angsterfüllt quiekte: "Sora, halt mich fest!!!" Es war Bruna, 9 Jahre alt, aber Moment - sie war doch gar nicht teil des Kreuzweg-Ensambles, sie war doch nur Zuschauerin!
Plötzlich wurde mir klar, dass dieses Unwetter für die Bewohner Rubem Bertas kein Abenteuer ist, sondern eine Katastrophe.
Bruna hatte in der Dunkelheit und dem Chaos ihre Mutter verloren, als alle Menschen wild auseinanderströmten. Sie wusste nicht wohin und flüchtete sich in den Transporter, der sie ins Cesmar brachte.
Mir wurde klar, dass das Stück Holz, dass mich da am Bein getroffen hatte, das Dach oder die Wand eines Hauses waren, in das nun das Wasser strömte; dass der Dreck und der Müll, die durch die Luft flogen, mit dem Regen in die Häuser gespült werden und zum Bakterienherd werden; dass der Stromausfall wahrscheinlich Tage anhält, weil die Stromleitungen in der Favela immer als letztes repariert werden.
Im Cesmar sassen wir alle im Kerzenlicht, tropfnass und wartete, dass sich das Wetter besserte. Wir: die educadoren, die in der Favela leben und die sich wahrscheinlich fragten, ob das Haus noch steht; die Kinder, die sich in Panik in den Transporter geflüchtet hatten (neben Bruna waren es noch mehr) und Linda und ich, irgendwie Aussenseiter in dieser Situation, denn wir sind schliesslich nur Besucher.
Alle warteten ab, denn so konnte man nicht auf die Strasse, im stockdunkeln, im strömenden Regen, bei Blitz und Donner und Windhose.
Auch wir wussten nicht recht, wie wir nach Hause kommen sollten, aber glücklicherweise bot ein Kollege, der mit dem Auto da war, an, uns heimzufahren.
Zuhause angekommen stllte ich mich unter die heisse Dusche, zog einen dicken Pulli an, trank einen schönen Tee und meine Gastvater versorgte mich mit seinem ganz eigenen Anti-Erkältungmittel: Cachaça mit Acerola, einer sehr Vitamin-C-haltigen Tropenfrucht.
Damit war das "Abenteuer" für mich vorbei, ich sass im Warmen, Trockenen, Sicheren.
In Rubem Berta harrten die Menschen im Dunkeln aus, hatten bei jeder Sturmböe Angst, dass das Haus nicht standhält, zuckten bei jedem Blitz zusammen und versuchten, das Wasser davon abzuhalten, ins Haus zu strömen.
Für sie war die Katastrophe noch lange nicht vorbei.

Ein Zeitungartikel von heute zeigt das Ausmass der Zerstörung:

Zehntausende Menschen ohne Strom

Mindestens zehn Personen, darunter drei Kinder, sind bei einem schweren Sturm im brasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Sul an der Grenze zu Argentinien und Uruguay getötet worden. Heftige Regenfälle lösten mehrere Erdrutsche, Überschwemmungen und Hochwasser aus, umstürzende Bäume und Strommasten sorgten im gesamten Bundesstaat, vor allem in den Städten Igrejinha, Fazenda Vilanova, Sapucaia do Sul und Nova Hamburgo, für ein Chaos.

Nach Berichten von Augenzeugen erreichte der Sturm Böen von bis zu 100 Km/h, in den betroffenen Gebieten von Taquerí, Teuroni, Sao Leopoldo, Venancio Aires und Porto Alegre waren bis zu 100.000 Menschen ohne Strom. In Igrejinha begrub ein Erdrutsch mindestens sechs Häuser, zwei Verschüttete konnten nur noch tot geborgen werden. Die Todeszahl könnte sich noch erhöhen, da mindestens fünf weitere Personen unter Tonnen von Schlamm begraben sind. Bei einem Erdrutsch in einem Armenviertel von Nova Hamburgo wurden drei Brüder, 9, 11 und 13 Jahre, unter einer Schlammlawine begraben und getötet.

Über 80 Prozent der Straßen der Stadt Santa Cruz stehen nach dem Sturm unter Wasser. Das Nationale Institut für Meteorologie (Inmet) warnte, dass in den nächsten Stunden in den westlichen, zentralen und nördlichen Regionen von Rio Grande do Sul mit weiteren schweren Regenfällen und Hagel zu rechnen sei.

Ostern im Cesmar


In den letzten Wochen drehte sich im Cesmar alles nur um ein Thema - Ostern.
Besonders bei den Turmen der ganz kleinen zwischen 6 und 8, mit denen ich inzwischen fast ausschliesslich abeite, brach das Osterfieber aus. So wurden in den letzten Wochen nur noch Hässchen gebastelt, Ostergeschichten vorgelesen, Osterlieder gesungen, Eier gemalt und die Ostersymbole besprochen.
Ähnlich wie in Deutschland auch, bedeutet Ostern in den Augen der brasilianischen Kindern vor allem eins: SCHOKOLADE!!!
Die Ostereier, die man in Deutschland in seinem Nest findet, sind aber im Vergleich zur brasilianischen Verison eher kümmerlich: Die normalen Ostereier hier haben die Grösse eines Strausseneies und sind mit mehreren Schichten Nougat, Creme, Karamell oder anderen süssen Sünden gefüllt. Kein Wunder, dass so ein Kalorienbomben-ei im Maxiformat schon mal locker 30 Reais kostet - angesichts des Stundenlohns von 2 Reais, den eine Putzfrau hier in der Favela verdient, eine ganz schöne Summe. Viele von den Kindern erwarteten also nicht alzu grosse Präsentkörbe zu Hause und rechneten fest mit dem Cesmar-Osterkörbchen, das sie bis jetzt jedes Jahr am letzten Tag vor den Osterfeiertagen bekommen hatten.

Aber in diesem Jahr war das Geld für Süssigkeiten restlos wegrationalisiert worden.
Keiner von uns brachte es übers Herz, das den Kindern zu sagen und so bastelten wir mit den kleinen Osternester aus alten CDs und Moosgummiresten und hatten keine Ahnung, wie wir diese Nester auch nur anseitsweisse füllen sollten. Wenigstens für die ganz Kleinen wollten wir eine süsse Überraschung bereithalten und meine Kollegin war schon so weit, dass sie die Schokolade für alle 4 Turmen von ihrem eigenen Geld zahlen wollte. Ein absolut wahnsinniger Plan, denn eine Woche zuvor hatte sie mir noch erzählt, dass sie bis über beide Ohren verschuldet ist und ihr wahrscheinlich in der nächsten Woche das Wasser und der Strom abgedreht werden, wenn sie nicht zahlt.
Es musste also irgeneine andere Lösung her.
Eine weitere Kollegin setzte in den nächsten Tagen Himmel und Hölle in Bewegung, um Schokolade für die kleinen aufzutreiben und fand schliesslich einen Supermarkt, der die abgelaufenen Süsswaren spendete, die er nicht mehr verkaufen durfte.
Wir nahmen also alles Naschwerk aus den Packungen, damit man das Ablaufdatum nicht sehen konnte und packten die Osterkörbchen fertig, die am letzten Tag verteilt wurden.
Dazu zog ich mir plüschige Hasenohren auf, schminkte mir ein rosa Stupsnässchen und Tasthaare und "hoppelte" durch den Raum, um den Kindern ihre Nester auszuteilen. Die kleinen quietschenden vor Vergnügen und ihre Augen glänzten, als sie den Inhalt der Körbchen sahen, sie gingen fröhlich nach Hause und ihr hörte, wie ein kleiner Junge am Tor zu seiner Mutter sagte "Ich liebe das Cesmar!!"
Und so rettete der "Abfall" eines Supermarktes Ostern im Cesmar.

Donnerstag, 21. April 2011

"Em fevereiro tem carnaval" - Brasilien helau!!

Der Karnaval liegt zwar schon ein paar Donnerstage zurück, aber da es sich ja um das Highlight unter den brasilianischen Feiertagen handelt, muss wenigstens noch ein stichwortartiger Blogeintrag her, um ein paar Karnevalsimpressionen in die ferne Heimat zu verschicken.
Am Karnevalswochenende habe ich:
- spontan mit meiner besten Austausch-Freundin Sara den Nachtbus nach Florianopolis genommen(mit einer Entfernung von 6 Stunden ein Katzensprung für brasilianische Verhältnisse)
- in einem nur mässig vertrauenenserweckenden 16-Bett-Zimmer im Backpackerhostel geschlafen
- mich den ganzen Tag am Strand in der Sonne knusprig toasten und in den Wellen des Atlantiks treiben lassen
- den brasilianischen Strassenkarneval kennengelernt, bei dem sich alle Männer als Frauen verkleidet haben
- ein Konzert von Armin van Buuren erlebt und bis morgens um 6 barfuss unter dem Sternenhimmel getanzt
- ein Fischerboot zu einer paradiesischen Insel genommen und auf dem Rückweg einen akuten Anflug von Panik und Seekrankheit überstanden
- den Umzug der Sambaschulen im Sambódromo gesehen (völlig umsonst!)
- auf dem Rückweg 6 Stunden platschnass im durch die Klimaanlage auf 12 Grad runtergekühlten Bus gefroren

Den Karneval auch nur annähernd zu beschreiben, fehlen mir buchstäblich die Worte, aber die Fotos geben vielleicht einen Eindruck: