Das ist das Leben der anderen. Das Leben der Kinder, die 10 Busminuten weiter südlich geboren wurden, die in intakten Familien, in geordneteten Verhältnissen leben.
Wenn ich die Kinder der Creche sehe, reflektiere ich häufig meinen Tag im Cesmar. Ich denke an die zerrissenen Hosen und die durchlöcherten Projekt-T-Shirts, die die Kinder dort tragen, an die zerzausten, verlausten Haare, die wild in alle Richtungen abstehen und lange Zeit weder Wasser noch Bürste gesehen haben, an die dreckigen Hände, die fauligen Zähne, die mageren Ärmchen und die von Würmbefall aufgeblasenen Bäuche. Ich denke an das Geschreie und Gekeife, an die städigen Konflikten, an den Streit, der an jeder Ecke zu eskalieren droht und die ich constant eingreifen muss, um Situationen zu klären. Es scheint unglaublich zu sein, dass diese beiden Welten, die so nah beieinander liegen, sich nicht kennen. Manchmal frage ich mich: Wie kommt es, dass die Kinder im Cesmar so sind, wie sie sind? Die Tatsache, dass sie arm sind, bedeutet doch nicht, dass sie verhaltensauffällig und agressiv sein müssen?
Ich habe angefangen, mich im Internet zu informieren, auf Seiten über Erziehung, über Psychologie, Soziologie, Pädagogik und Entwicklung. Je mehr ich mich über diese Themen informiere, desto mehr erkenne ich, warum die Kinder des Cesmars so anders sind.
Die zerstörte, disfunkionale Umgebung der Kinder prägt sie auf diese Weise. Das Fehlen von intakten Familien, das Fehlen von Zuneigung und Nestwärme, von positive Kontakt und Mutterliebe macht die Kinder zu emotional verkümmerten, entwicklungsverzögerten Personen, die nicht in der Lage sind, sich in Gruppen einzufügen und soziale Kontakte zu anderen aufzubauen. Die Kinder Rubem Bertas sind regelrechte “Wolfskinder”, verwahrlost und vernachläsigkt, vollkommen auf sich allein gestellt.
“Was ein kleines Kind am nötigsten braucht, ist die intensive und dauerhafte Gefühlsbindung zur Mutter. Wird dieser Kontakt unterbrochen und erhält das Kind keine Ersatzperson, zu der es ähnliche Beziehungen aufnhemen kann, so stellen sich seelischen Schädigungen ein.” (Quelle: “Kinder ohne Liebe”, Josef Langmeier und Zdenek Matejcek)
“Ohne eine Schablone, eine Prägeform, fehlt den Opfern gestörter Mitmenschlicher Beziehungen später selbst die Fähigkeit, Beziehungen herzustellen. Sie sind nicht ausgerüstet für die fortgeschrittenen, komplizierten Formen des persöhnlichen und gesellschaftlichen Austauschs, ohne den wir als Art nicht fäig wären, weiter zu existieren. Sie können sich nicht an die Gesellschaft anpassen. Sie sind emotionale Krüppel… Ihre Fähigkeit zu normalen menschlichen und sozialen Beziehungen ist gestört, sie haben niemals Gelegenheit gehabt, gefühlsmässig liebevolle Beziehungen zu erleben und eine vertrauenenspendene erste Liebesbeziehung zu erleben. Das Elend dieser Kinder wird in die Trostlosikgeit der sozialen Beziehungen des Herawachsenden umsetzen. Da ihnen die gefühlsmässige Zuwendung vorenthalten wurde, auf die sie Anspruch hatten, ist ihr einziges Hilsmittel die Gewalt. .. Das Kind wurde um die Liebe betrogen, dem Erwachsenen bleibt nur der Hass” (Quelle: René Spitz)
“Unter Hospitalismus (ursächlich auch Deprivationssyndrom genannt) versteht man alle negativen körperlichen und psychischen Begleitfolgen eines längeren Krankenhaus- oder Heimaufenthalts oder einer Inhaftierung. Dies beinhaltet auch mangelnde Umsorgung und lieblose Behandlung von Säuglingen und Kindern(…) Der Ausdruck Deprivationssyndrom stammt vom Begriff Deprivation, lateinisch deprivare - berauben in Bezug auf Reize und Zuwendung.
Hospitalismus kommt überall dort vor, wo Menschen zu wenig (Vernachlässigung) oder negative (Ablehnung) emotionale Beziehungen (Bindungsstörung) erhalten. (…)Es ist auch in Familien anzutreffen, in denen die Eltern mit der Pflege der Kinder überfordert sind oder diese aus irgendwelchen Gründen ablehnen und sie deshalb schwerer physischer und psychischer Vernachlässigung oder Misshandlung ausgesetzt sind (…) Bekannt sind die Forschungen von René Spitz zur Entwicklung der Beziehung zwischen Mutter und Kind im ersten Lebensjahr. Untersuchungen der gestörten Mutterbeziehungen des Säuglings bei widersprüchlichem Mutterverhalten: Aktive und passive Ablehnung des Kindes, Überfürsorglichkeit, abwechselnde Feindseligkeit und Verwöhnung, mit Freundlichkeit verdeckte Ablehnung. Solche Bedrohungen der Beziehung führen je nach Art der gestörten Objektbeziehung zu verschiedenen schweren psychischen und psychosomatischen Störungen beim Kind.
Mit dem psychischen Hospitalismus verwandt ist die Verwahrlosung von Kindern und Jugendlichen; sie werden sich selbst überlassen.
Je nach individueller Situation des von Vernachlässigung Betroffenen kommen nicht alle Symptome vor oder sind je nach Ursache eher körperlicher oder eher seelischer Natur. Folgende Symptome aufgrund von Vernachlässigung können auftreten:
- Erhöhte Krankheitsanfälligkeit und Sterblichkeit der Säuglinge und Kinder, vermehrtes Auftreten von Infektionskrankheiten
- Störungen des Appetits (Appetitverminderung oder übermäßige Esslust), Essen wird gesammelt und irgendwo eingelagert, z. B. unterm Bett (bei Kindern, die neben der Vernachlässigung auch Hunger erfahren haben)
- motorische Verlangsamung, ungenügende Reaktionsfähigkeit
- Passive Grundstimmung, Teilnahmslosigkeit bis zur Apathie
- Kontaktstörungen und Wahrnehmungsstörungen, die dem Autismus stark ähneln können
- Erzwingen von Aufmerksamkeit, stehlen, lügen (bei Kindern)
- Resignation, Anaklitische Depression
- mögliche Entwicklung einer reaktiven Bindungsstörung, einer Anpassungsstörung oder Borderline-Persönlichkeitsstörung als Folge der Resignation (bei Kindern aufgrund sehr langen Heimaufenthalts und extremer Deprivation sowie Fehlen von „Nestwärme“)
- motorische Unruhe und Stereotypien wie z. B. Jaktation (Jactatio capitis - Kopfwackeln, Jactatio corporis - Schunkeln) bis zur Selbstverletzung (zum Beispiel Anschlagen mit dem Kopf an die Wand), ständiges Umhergehen
- Störungen der Aufmerksamkeit und der Konzentration, schnelle Ermüdbarkeit
- geringe/fehlende Frustrationstoleranz (Neigung zu Wutanfällen), Aggressionen und Reizbarkeit
- mangelnde soziale Integration oder gar keine Sozialisation, Neigung zu „asozialem“ Verhalten
- verstärktes Daumenlutschen
- körperliche Retardierung (zum Beispiel Minderwuchs oder Abmagerung durch mangelhafte Ernährung), Marasmus, schlechte Zähne
- ungepflegtes Äußeres, verschmutzte und zerlumpte Kleidung, mangelnde Körperhygiene
- intellektuelle und emotionale Retardierung, die das Ausmaß einer geistigen Behinderung annehmen kann („Pseudodebilität“),
- Angstzustände, ängstlich-vermeidendes Verhalten,
- Störungen der Konzentration und der Aufmerksamkeit,
- Lernstörungen
- Leistungsschwäche
- Depressionen und Weinerlichkeit, depressive Grundstimmung
- geringes Selbstwertgefühl
- mangelhaftes Gefühl von Geborgenheit und wenig Urvertrauen (bei Kindern)
- Verantwortungslosigkeit gegenüber sich selbst und den Mitmenschen
- mangelnde Kritikfähigkeit, gesteigerte Empfindlichkeit gegenüber Kränkungen
- Regression, Abbau kognitiver Fähigkeiten, erworbene Fähigkeiten gehen wieder verloren, ein Zurückgreifen auf frühere Verhaltensweisen, dies häufig bei Menschen in Altersheimen oder Krankenhäusern
- monotone Bewegungen, ständig gleiche Fragestellungen
Die Folgen von psychischen Hospitalismus (Deprivation) sind erst auf den zweiten Blick zu erkennen können jedoch gravierender und langfristiger sein (...) Mögliche Folgen sind psycho-affektive Störungen, also Verzögerungen und Veränderungen im Antrieb, in der Wahrnehmung und im Fühlen und Denken sowie emotionale Stumpfheit. Die Kinder können retardieren und/oder entwickeln später möglicherweise eine Bindungsstörung, eine Borderline-Persönlichkeitsstörung oder eine Anpassungsstörung . (Quelle: Wikipedia)
Die Verhaltensauffälligeiten, die Agressivität, die Unterentwicklungen, die Zurückgebliebenheit und all die anderen Symptome, die die Kinder des Cesmars “anders” machen, lassen sich also erklären. Der Grund dafür ist nicht die exestentielle Armut dieser Kinder, sondern die Verwahrlosung und Vernachlässigung, die sie zuhause erfahren. Da diese Vernachlässigung der Eltern aber jedoch wieder auf die soziale Notlage zurückzuführe ist, die die zumeist jungen Mütter und Väter überfordert und in die Alkohol- oder Drogensucht treibt, bildet sich der furchtbare, scheinbar undurchbrechbare Teufelskreis der Favela.
Aus den sozial gestörten Kindern werden vermutlich wieder sozial gestörte Eltern, die ihre Kinder auf genau die selbe Weise behandeln. Das Cesmar versucht, diesen Kreislauf aufzuhalten, diese Prozesse zu durchbrechen. Im Cesmar erfahren die Kinder Liebe, sie werden gefördert und ihre Entwicklung wird stimuliert und man sieht tatsächlich überraschende Erfolge.
Wenn ich abends an der Creche vorbeigehe, denke ich an “die anderen” Kinder des Cesmars, die genauso fröhlich spielen könnten – wenn sich jemand um sie kümmern würde. Aber leider interessieren sich viel zu wenig Menschen auf der Welt für das, was sie nicht direkt betrifft. Was nicht direkt vor der eigenen Haustür passiert, passiert eben nur “den anderen”.
Warum sich darum kümmern?