Sonnenuntergang in Porto Alegre

Sonnenuntergang in Porto Alegre

Dienstag, 12. Oktober 2010

Wahl in Brasilien

Wenn man derzeit in Brasilien ist, kommt man um ein Thema wohl nicht herum:
Die Präsidentschaftswahl.
Das Wahlsystem ist hier in Brasilien kompliziert und vielschichtig, deshalb habe ich nicht alle Details und Feinheiten verstanden habe (vielleicht liegt das aber auch daran, dass mein Portugiesischwortschatz im Bereich "politische Fachbegriffe" ziemlich grosse Lücken aufweist).
Trotzdem werde ich versuchen, die Dinge ein bisschen zu erklären, falls es aber zu grosse Konfusion stiftet, verweise ich darauf, "brasilianisches Wahlsystem" bei Google einzugeben.

Der grösste Unterschied ist in erster Linie, das man hier nicht die Partei, sondern einen Kandidaten wählt. Nicht nur für den Präsidenten, sondern auch für "senador", "goverador" und "deputado federal" (die Aufgaben dieser Ämter können ebenfalls bei Google gefunden werden).
Dementsprechend gestaltet sich auch der Walhkampf ganz anders als in Deutschland:
Hier in Brasilien gibt es eine elektronische Urne und man muss die Nummer des Kandidaten eingeben. Dafür muss man die Nummer natürlich wissen, und deshalb wurde die Bevökerung in den letzten Wochen in Wahlwerbung geradezu ertränkt. In der Stadt bekam man überall Zettel in die Hand gedrückt mit dem Gesicht eines Politikers, seinem Vornamen und seiner Nummer. Hier in Brasilien nennt man alle Politiker beim Vornamen, was für mich am Anfang irgendwie seltsam war, denn ein Gespräch über Politik klingt dann in etwa so:
"Ich werd den Mauricio wählen, denn dieser Ana kann man nicht vertrauen."
"Findest du? Die Ana arbeitet doch mit Flávio zusammen und den finde ich deutlich kompetenter als Mariana!"
Aber neben den Zettelchen nutzt die Politikpropaganda hier auch jedes andere Kommunikationsmedium: im Fernsehen gibt es einen speziellen "horario da propaganda politica" zu den Top-Sendezeiten (beim Mittagessen und zwischen Nachrichten und Novela), in dem eine Stunde lang ununterbrochen Wahlwerbung gezeigt wird.
Die Unterschiede zwischen den einzelnen Parteien und Kandidaten sind dabei für mich als politisch nicht wirklich informierten Zuschauer kaum zu erkennen.
Die Schlagworte, die in jedem Werbespot fallen, sind "Educação" (Bildung), "Segurança" (Sichereit) und "Saúde", (Gesundheit), wobei bei keinem Kandidaten deutlich wurde, wie genau er diese Ziele erreichen will.
Jeder Kandidat hat aber eine eigene kleine Musik in seinem Werbespot, das den Namen und die Nummer beeinhaltet. Diese Jingles wurden als perfekte Ohrwürmer komponiert, und so könnte auch ich jetzt auf Anhieb mindestens 13 Kandidaten mit ihrer Nummer nennen.
Die Jingles werden städig im Radio oder von auf Motorrädern befestigten Ghettoblastern gespielt, die durch die Strassen fahren.
An so ziemlich jeder Mauer oder Hauswand klebt ein Wahlplakat oder wurde mit Farbe die Nummer und der Name eines Politikers geschrieben und in der Stadt schwenken Leute riesige Fahnen mit den Nummern - man kann dem Wahlkampf hier nicht entkommen!!!

Es gibt hier eine Wahlpflicht, das heisst, jeder, wirklich jeder Bürger muss wählen, was in einem Land wie Brasilien gar nicht so einfach ist: Eine unglaublich grosse Bevölkerung, verteilt über eine grosse Fläche, viele Analfabeten und politisch Ungebildete, abgeschiedene Indianerstämme im Amazonas, grosse Gebiete, die nicht mit Infrastuktur erschlossen sind...
Deshalb laufen im Fernsehen auch Aufklärungsspots, in den denen erklärt wird, wie man wählt:
Die Prozedur an der elektronischen Urne ("Geben Sie die Nummer des Kandidaten ein, den Sie wählen wollen, und bestätigen Sie mit de grünen Taste), die Wahlgrundsätze ("Ihre Wahl ist geheim und niemand wird nachvollziehen können, wen Sie gwählt haben") , was man mitbringen muss ("In diesem Jahr gibt es ein neues Gesetz: Um wählen zu können, müssen Sie neben dem Título de eleitor ein weiteres Dokument mit Foto mitbringen") oder überhaupt erstmal, welche Aufgaben eigentlich die Personen haben werden, die die einzelnen Ämter bekleiden.
Wenn man hier nicht wählen geht, muss meine eine Geldstrafe zahlen und wenn man über mehrere Wahlgänge das Votum verweigert, wird man von allen öffentlichen Dienstleistungen ausgschlossen und kann z.B. seinen Führerschein nicht verlängern lassen oder das Gesundeitssystem nutzen.

Obwohl es unzählige Parteien gibt, waren nur drei Kandidaten wirklich wichtig für die Präsidentschaftswahl:
Dilma, von der PT (Arbeiterpartei), von der auch der momentane Präsidenten Lula ist;
Serra, von der PSDB (Sozialdemokratische Partei Brasiliens) und
Marina, von der Partido Verde (Grüne Partei).

Im ersten Wahlgang letzte Woche ereichte keiner dieser Kandidaten die absolute Mehrheit der Stimmen, weshalb es einen "segundo turno", eine Stichwahl zwischen Dilma und Serra gibt, die am meisten Stimmen erreicht haben.
Ich verstehe nicht genug von diesem Land, seinen Problemen und seiner Politik, um über die beiden Kandidaten und ihre Ideen urteilen zu können, aber aus Gesprächen mit meiner Gastfamilie, Freunden und Kollegen habe ich heraushören können, das beide Kandidaten relativ umstritten sind.

Ich habe hier die Wahlwerbespots einiger Kandidaten eingefügt, damit ihr euch ein Bild vom Wahlkampf machen könnt. Die Parteien habe ich dabei völlig zufällig gewählt und sie spiegeln nicht meine politische Überzeugung wieder.
Ausserdem findet ihr den Regierungs-"Aufklärungsspot", der erklärt, was der Präsident eigentlich so macht.





Donnerstag, 7. Oktober 2010

"Semana das crianças" im Cesmar


Schon wieder stand im Cesmar eine "Sonderwoche" an, diesmal die Semana das crianças, die Kinderwoche.
Da könnte man langsam denken: Mensch, wann ist denn da in diesem Projekt mal normaler Alltag?
Die Antwort lautete: Ziemlich selten, und das ist auch so beabsichtigt. Das Cesmar ist keine Schule und hat daher keinen festen Lehrplan oder andere Vorgaben, die erfüllt werden müssen.
Die Kinder sollen vorallem deshalb in das Projekt kommen, um von der Strasse weggeholt zu werden, um ihre Freizeit sinnvoll zu verbringen, mit tanzen, singen, spielen oder basteln und um Dinge zu erfahren und zu lernen, die in ihrem Alltag leider häufig zu kurz kommen: Liebe, Zuneigung, Respekt, Höflichkeit, Zuverlässigkeit und Beständigkeit.
Deshalb versuchen die Mitarbeiter immer aufs Neue, den Kindern irgendeine spannende Beschäftigung zu bieten; ein Spiel, dass sie noch nicht kennen, einen Tanz, den sie noch nie gesehen haben, ein neues Lied singen oder eben diese Sonderwochen, in denen alles etwas anders abläuft.

Die Semana das crianças war vollkommen den Kindern gewidmet und die Lehrer liessen sich unglaublich viel einfallen, was mit einfachen Mitteln und viel Improvisation umgesetzt wurde.
Statt sich wie normalerweise in Turmas aufzuteilen, blieben die Kinder die ganze Woche über jeden Tag zusammen in der Turnhalle und es gab verschiedene Aufführungen. Jede Oficina zeigte den anderen Kindern, was sie in den lezten Wochen einstudiert hatte: der Chor, die Hip-Hop-Gruppe, die Capoeiras, die Percussion-Band, die Gaúcho-Tanz-Gruppe und die Theater- und Tanzgruppe, die ich in den letzten Wochen betreut habe mit dem Stück "ser feliz está en nossas mãos" (Glücklich sein liegt in unseren Händen).
Neben den artistischen Auftritten gab es eine "direktionierte Pause", in der jeder Lehrer etwas anderes anbot: von 11-Meterschiessen über Ponyreiten und Hindernislauf bis hin zu Dosenwerfen, Stelzenlaufen und Tischkickern war alles dabei, was das Kinderherz begehrt.
Ich wurde kurzerhand dem Kinderschminken zugeordnet, bei dem am meisten helfenden Hände gbraucht wurden und wie so häufig war "ich hab da gar kein Talent für" keine Ausrede.
Den Kindern war es aber auch egal, ob der Schmetterling ein bisschen schief geriet oder ob ein Leopard eigentlich eine andere Musterung hat.
Der "lanche", der Imbiss der Kinder war diese Woche auch ein besonderer, statt wie sonst meistens belegte Brote gab es Kuchen, Pizza, Würstchen im Schlafrock oder Hotdogs.
Das grösste Highlight der Woche war aber für die Kids der Ausflug in den Zoo. Schon seit Wochen redeten die Kleinen kaum von etwas anderem und morgens waren sie so aufgeregt, dass sich die Abfahrt um eine Stunde verzögerte, weil es vor lauter Gezappel und Gerenne unmöglich war, die Liste durchzugehen und jedem ein Namensschild anzupinnen.


Neben Spiel, Spass, Tanz und Gesang hatte die Woche aber auch ihre ernste Seite: Ein grosses Plakat erinnerte an die Kinderrechte, die leider für viele der Kinder im Cesmar weit entfernte Träume sind. Nicht alle von ihnen wachsen ohne Hunger, ohne Gewalt, ohne Kinderarbeit und ohne Missbrauch auf, nicht alle haben den Zugang zu Bildung und ärztlicher Versorgung.
Ein anderes Plakat mit dem Titel "Kind sein ist...." lud die Kinder ein, ihre Gedanken aufzuschreiben. Da standen Dinge wie
"glauben, dass alles im Leben möglich ist",
"Freunde machen, bevor man überhaupt den Namen des anderen kennt",
"rennen, spielen, springen"
"jeden Abend denken >das war der schönste Tag meines Lebens<" oder "etwas ganz besonderes" So sollte Kindheit sein, aber leider ist das häufig nicht der Fall. Wie wenig unbeschwerte Kindheit viele der Kleinen haben, wurde diese Woche besonders deutlich. Ich war überrascht davon, mit was für Kleinigkeiten man den Kindern im Cesmar eine riesige Freude machen kann: auf der Bühne ein Lied singen und danach hören "Wow, das hast du aber toll gemacht"; ein Stück Schokoladenkuchen; eine Busfahrt in eine andere Stadt; einmal einen Elefante sehen; jemanden, der hinsieht, wenn man "Guck mal!" ruft; im Bus auf dem Schoss eines Lehrers schlafen, der einem über die Haare streicht; ein bisschen rosa Farbe im Gesicht, die die Narben verdeckt und einen in einen Schmetterling verwandelt.
Die semana das crianças war mal wieder eine Sonderwoche, die uns Lehrer jede Menge Nerven gekostet hat (insebsondere der Ausflug in den Zoo!) aber es gibt wohl kaum einen schönen Lohn für seine Mühen als ein Kind, das dich zum Abschied umarmt und sagt: "Ich kann´s kaum erwarten, morgen wieder ins Cesmar zu kommen".